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Starke Frauen ziehen Kraft aus Widerständen

Die Fortsetzung des Interviews im Video:

 

Andrea: Da höre ich ganz viel über die Verbindung von Natur und Stärke, wie wir uns bei der Natur viel anschauen können, um in unsere Stärke zu kommen.

Birgit: Bei der Natur, aber es gibt auch andere Situationen, wo sich scheinbare Hindernisse in Stärke verwandeln. Zum Beispiel im Karate nutzt man dieses Prinzip: Wenn dir ein Widerstand begegnet, gehe mit der Energie. Weiche ihr nicht aus, sondern geh mit, nutze sie, lass sie fließen. Wenn ich diese Beispiele übertrage auf mein Leben, dann ist es, wie du eben gesagt hast – ich werde angereichert mit Kraft, gerade durch das Hindernis, was mir in den Weg kommt.

Andrea: Das finde ich ein wunderschönes Bild. Ich merke mehr und mehr, dass Herausforderungen, große, kleine – egal, sich komplett verändern, sobald ich es schaffe, den Widerstand wegzulassen. Es entsteht dann ein ganz neues Erleben und eine unglaubliche Energiequelle. Wenn ich lerne, mit Widerständen anders umzugehen, ist das ein wesentlicher Schritt hin zur Stärke?

Birgit: Absolut. In dem Moment, in dem ich anfange, den Widerstand zu akzeptieren – er ist da und ich akzeptiere ihn wertfrei, ohne Be- oder Verurteilung, ohne Angst und ohne Leid – dann kann ich anfangen, meine Perspektive zu verändern. Und dann muss ich nicht mehr kämpfen, sondern kann schauen: Was sind meine Möglichkeiten, wie komme ich um dieses Hindernis herum, wie nutze ich es?

Andrea: Ich merke diesen Widerstand auch sehr oft in ganz normalen Zuhör-Situationen: Ich rutsche in Ungeduld, ich rutsche ins Urteil: „Das hab´ ich doch schon tausendmal gehört, warum denkt der immer so negativ, warum redet die immer über andere …“, und so weiter.

Birgit: Ja, und der erste Schritt ist, zu erkennen: Ich bin im Urteil. Oh, ich packe gerade in eine Schublade, oh, das ist mein Konstrukt – und das alles zurückzunehmen. Fühlendes Zuhören nenne ich das, ich beschreibe es auch in meinem Buch. Beim fühlenden Zuhören nehme ich mich aus der Ver- oder Beurteilung, ich fühle mit reinem, offenem Herzen, was das für eine Information ist, die gerade bei mir ankommt. Wenn man das praktiziert, eine Zeit damit geht, sich wirklich in dieses fühlende Zuhören hineingibt und frei wird von Urteilen, dann ist es eine solche Befreiung! Es macht Freude, gibt Leichtigkeit, ein Lächeln, es lässt dich zurücklehnen, weil du nicht länger im Kampf, im Widerstand bist. Und du musst dich auch nicht schützten – es gibt ja keinen Angriff mehr.

Andrea: Jeder Angriffsgedanke – egal ob du ihn nach außen projizierst oder in deine eigenen Urteile über dich selbst ist ja eigentlich ein Angriff auf deine (unverletzliche) innere Stärke und damit ein (selbst herbeigeführter) Verlust der Energie. Stattdessen also Leichtigkeit, und ich glaube, dazu habe ich einen Satz auf deiner Webseite gefunden: Leichtigkeit ist eine Frage der Entscheidung.

Birgit: Absolut – Leichtigkeit ist genau dieses Akzeptieren von Hindernissen, von Herausforderungen. Wenn ich mich zurücknehme, offen und ohne zu bewerten, dann entsteht Leichtigkeit. Und ja, damit ist Leichtigkeit eine freie Entscheidung – ich kann mich entscheiden zu kämpfen und die Starke zu sein, keine Gefühle zu zeigen. Ich kann einen harten Panzer aufbauen und da innen in meinem Panzer verkümmert alles. Natürlich benötige ich Stärke, um durch meinen Tag zu kommen, aber darin ist kein Widerspruch zur Leichtigkeit. In der Stärke, die ich meine, kann ganz viel Leichtigkeit sein.

Andrea: Es scheint zwei ganz unterschiedliche Bilder von Stärke zu geben – zum einen diese gepanzerte und verpanzerte Frau, die sich hinter vermeintlicher Stärke versteckt, hinter einem Korsett von Rollen oder Mustern und zum andern – so höre ich jetzt aus deinen Ausführungen heraus – eine ganz andere Form von Stärke, die erst in der Auflösung dieser Panzer entsteht.

Birgit: Diese äußere Stärke wird ja oftmals von einer Frau gefordert, wenn sie Karriere machen möchte. Wenn sie sich positionieren möchte, muss sie eine harte Schale haben, tough und schnell sein, klar im Kopf und mit harten Bandagen kämpfen. Was für mich Stärke bei Frauen bedeutet, ist das, was im Inneren ist. Wenn frau den Panzer ablegt und hinschaut, dann ist da eine große Verletzlichkeit. Ich schaue hinter den Panzer und finde all das, was mich ausmacht – meine Gefühle, meine Stärken, aber auch meine Schwächen, meine Erfahrungen, meine Verletzungen. Wenn ich mir all das nicht bewertend anschaue, sondern mit Akzeptanz und Achtsamkeit, dann komme ich mehr und mehr in meine Kraft. Und weil ich diesen scheinbar schützenden Panzer nicht mehr aufrecht erhalten muss, geht mir keine Energie verloren, ich kann noch mehr Kraft entwickeln. Diese Art von Stärke ist es, die wir benötigen, die innere Kraft von Frauen, verbunden mit dem Wissen: All das gehört zu mir, ist Quelle meiner Kraft, meiner Weiblichkeit, meiner Intuition, Quelle genau des Lebens, das ich lebe und leben möchte.

Andrea: Hast du Erfahrung damit, was passiert, wenn Frauen aus dieser veränderten Stärke heraus in Unternehmen agieren?

Birgit: Ja, ich erlebe es an verschiedenen Stellen, dass Frauen mit ihrer innerlichen Kraft und Stärke nach vorne gehen und sich damit zeigen, Verletzlichkeit zeigen aber auch Präsenz und damit sehr viel Einfluss auf ihr Umfeld gewinnen. Natürlich erfahren sie an manchen Stellen deutliche Ablehnung, noch aus dem alten Rollenverständnis heraus, aber auch begründet in der Angst der ablehnenden Person vor dem Neuen: „Huch, was kommt denn da, das kenne ich nicht, was will das hier? Was macht das mit mir?“ Aber der Einfluss dieser weiblichen Stärke geht darüber hinaus, weil Menschen entdecken können, dass es eine andere, eine weichere, mitfühlendere Möglichkeit gibt, in Führung zu sein und trotzdem Stärke zu zeigen. Weil diese Frau authentisch ist, weil ihre Stärke aus dem Inneren kommt. Ich erlebe diesen Wandel gerade bei einer Frau, die ihren Panzer abgelegt hat und jetzt beginnt, etwas ganz Neues aufzubauen und durch sie erfahren die Menschen in ihrem Umfeld – Männlein wie Weiblein – einen neuen, einen anderen Fokus und lernen, dass die innere Stärke bedeutsam ist. Ich bin mir sehr sicher: Je mehr jede einzelne von uns Frauen diese innere Kraft lebt und zeigt und auch ihre Verletzlichkeit zeigt, desto mehr Menschen werden angesteckt, werden mitgehen. Bleiben wir beim Beispiel „Wasser“: Sie ist wie der Stein, der ins Wasser fällt und Kreise zieht.

Andrea: Hast du einen Eindruck gewinnen können, was sich in Unternehmen oder Teams verändert, wenn plötzlich diese neue Art zu führen Einfluss gewinnt?

Birgit: Es ist eine Chance, die alten Strukturen aufzuweichen. Menschen erkennen, dass sie Konkurrenz nicht mehr benötigen, es entsteht ein Miteinander, ein Mehr an Menschlichkeit. Natürlich gibt es auch Angst und Unsicherheit, wie ich es eben schon gesagt habe – das Alte ist bekannt, hat jahrzehntelang funktioniert und es braucht jetzt den mutigen Blick über den Tellerrand und die Erkenntnis – nein, eigentlich funktioniert es nicht mehr.

Andrea: Du sagst, dass das Alte nicht mehr funktioniert – warum? Was benötigen wir stattdessen?

Birgit: Eine Veränderung, die es uns ermöglicht mit mehr Weiblichkeit, mit weiblicher Kraft und Intuition in die verkrusteten Organisationsstrukturen hineinzugehen, bringt meistens mehr Kreativität, mehr Menschlichkeit, ein deutliches Mehr an Miteinander. Wir denken dann nicht mehr in Konkurrenz und Gegeneinander, sondern erleben das Erwachen von Synergien, von gemeinsamen Kräften, die wir kreativ nutzen und damit wirken können. Wenn wir uns miteinander in Offenheit verbinden, dann ist das auf ganz vielen Ebenen gewinnbringend: auf der zwischenmenschlichen, auf der kreativen und auf der konstruktiven Ebene gleichermaßen.

Andrea: Ich gehe jetzt also hin als CEO, mit meinen Zahlen, mit meinem BWL-Studium, und sage: „Hört sich nett an, was Frau Duckheim da sagt, aber so wie es ist, hat´s doch immer super funktioniert. Was soll ich damit, was soll der Kokolores?“ Haben wir ganz eindeutige Argumente, warum wir etwas Neues brauchen – starke Frauen in den Unternehmen?

Birgit: Wenn „dein“ CEO sich anschaut, wie viele Menschen aus verschiedensten Arbeitsbereichen hochbelastet in den Krankenstand gehen, in den Burnout gehen, in Depressionen stürzen und nicht mehr leistungsfähig sind, dann sollte ihm das zu denken geben und er könnte verstehen, dass die etablierten Strukturen und wie sie geführt werden, einen hohen Preis fordern, von jedem einzelnen Mitarbeiter, von jeder Mitarbeiterin. Und letztlich wird – muss – es zur Veränderung dieser Strukturen kommen, weil die Mitarbeitenden in ihnen nicht mehr funktions- und leistungsfähig sind – zumindest nicht in dem Sinn, in dem diese Strukturen Leistung und Funktion definieren.

Andrea: Was können wir tun, was sind erste Schritte?

Birgit: Im Wesentlichen geht es darum, den Menschen, die Mitarbeiterin, wieder als ganzheitliches Wesen und nicht als funktionierendes Gehirn oder „Humanressource“ zu sehen. Für solche ganzheitlichen Wesen könnten wir dann ein Umfeld schaffen, das ihre Leistungsfähigkeit (im neuen Sinn) fördert – wir könnten Wohltuendes, Entspannendes in die Pausen bringen, wir könnten Bewegung und explizit bildschirmfreie Zeiten anbieten und so weiter – all das kann einem Unternehmen auf lange Sicht nur zuträglich sein.

Andrea: Ich glaube auch, dass wir einen neuen, ganzheitlichen Blick auf die Mitarbeitenden zum einen und auf die Organisationsstrukturen zum anderen benötigen.

Birgit: Die aktuellen Organisationsstrukturen mehr und mehr zerbröseln zu lassen, mit neuer Kreativität, mit neuen Möglichkeiten, das kann Weiblichkeit mitbringen. Aber sie kann auch die alten Rollenverständnisse verändern, also auch die Frage, was ein starker Mann zu sein hat. Und ich erlebe, dass das gerade geschieht und finde es wunderbar zu sehen, dass nicht mehr wichtig ist, wer mit den stärksten Muskeln und dem dicksten Panzer ankommt. (Und damit meine ich jetzt den Panzer im oben erwähnten Wortsinn ebenso wie das dicke Auto.) Immer mehr Manager beziehen sich auf andere Werte und ich erlebe, dass auch Manager sich Emotionalität erlauben und ein „weiblicher“ Anteil, der ja in jedem von uns zu finden ist, explizit erwünscht ist. Ich denke, je mehr diese neue Art von authentischem Menschsein innerhalb der Arbeitswelt an die Oberfläche kommt, aus der Tiefe heraus, desto mehr verändern sich die Strukturen in den Unternehmen.

Andrea: Ich komme immer mehr zu der Einsicht, das Stärke – egal ob bei Frau oder Mann – erst in dem Moment entsteht, in dem ich es schaffe, in Bezug zu mir selbst zu kommen. Ist das eine Erfahrung, die du teilst?

Birgit: Ja, absolut. Je mehr ich erkenne, wer ich unter diesem schützenden Mantel bin, der mir angezogen und anerzogen wurde, je mehr ich mit all meinen Facetten da heraus komme, desto eher komme ich in meine Stärke. Was wir als Kinder alle gelernt haben, wie Mann sein muss, wie Frau (nicht) sein darf, das kann ich neu betrachten und sagen – doch, es darf sehr wohl! Ich kümmere mich um mich, sorge für mich und schaue mir an, wer ich hinter den Rollen und Mauern bin. Und indem ich das erkenne, komme ich in eine Akzeptanz, die Kraft und Stärke ausmacht.

Andrea: Es geht um Akzeptanz sowohl dessen, was ich bin als auch all der Erfahrungen, Erlebnisse und Prägungen, aus denen heraus ich so geworden bin?

Birgit: Genau, ich erkenne, was mein Weg war und ist. Was habe ich bisher für Wege gehen müssen und auch dürfen? Wie haben sie mich geprägt? Wenn ich mich umschaue, auf den Weg hinter mir blicke und sagen kann: „Wow, Respekt für mich selbst!“ – daraus entsteht Stärke.

Andrea: Wo wir gerade vom Rückblick auf den eigenen Weg sprechen – du hast mir im Vorgespräch erzählt, dass der biografische Schreibprozess deines Buchs dir sehr bei deiner Entwicklung geholfen hat. Ich bin ja Biografin, gebe Workshops im biografischen Schreiben und kann diese Sichtweise nur bestätigen. Es würde mich interessieren, wenn du uns über deinen Schreibprozess noch ein bisschen erzählst.

Birgit: Ich habe eigentlich immer schon viel geschrieben und gewisse Entwicklungsschritte auch im Schreiben reflektiert. Mein Buch ist entstanden in zwei Jahren Entwicklungszeit und in dieser Zeit habe ich natürlich genau hingeschaut, auch und vor allem auf Geschehnisse, die ich als Kind sicherlich nicht analytisch betrachtet habe – die waren halt einfach so, waren da. Auf all das jetzt noch einmal rückblickend zu schauen und mir bewusst zu machen, was ich da eigentlich geleistet habe, durch was ich durchgegangen bin, das hat meine Perspektive verändert. Ich habe beim Schreiben feststellen können: Das waren ganz schön herausfordernde Zeiten, es waren ganz große Hindernisse, aber ich habe sie bewältigt. Auf diesen Lebensabschnitt aus der Perspektive der Frau von heute zu schauen, das ist sehr heilend. Was als Verletzung da war, was ich als Kind vielleicht nicht einordnen konnte, das kann ich als Erwachsene von oben schauend wahrnehmen und ich kann diese Erfahrung verändern – nicht, indem ich sie ausradiere – ich kann sie anders einordnen. Ich kann schreibend erfahren, dass es damals schwierig war, vielleicht auch grenzüberschreitend, aber dass ich daraus Kraft gewonnen habe, und dieser Erfahrungsprozess im Schreiben macht den Kraftgewinn noch einmal deutlicher. Letztlich entsteht durch so einen Schreibprozess die Chance, das, was womöglich auch als negativ abgespeichert war, zu transformieren und als heilbringend und stärkend wahrzunehmen.

Andrea: Weil ich es mir nochmal anschaue und sage: „Ja, diese Situation war herausfordernd, aber ich habe sie bewältigt und sie hat mich auf meinem Weg weitergebracht. Ich bin eben nicht stehen geblieben, ausgebremst worden, ich bin weiter gegangen. Ich bin, um unser Wasserbild von eben zu nutzen, drumherum geflossen.

Birgit: Auch wenn du scheinbar an einem Endpunkt bist und denkst, es geht hier echt nicht weiter, dann doch die Möglichkeit zu erkennen: Ändere deine Perspektive, werde kreativ und finde eine Lösung. Und ganz sicher zu sein: Du wirst sie finden, denn es gibt immer eine Möglichkeit.

Andrea: Es gibt dieses schöne Zitat – „Der eine sieht nur Bäume dicht an dicht, der andere Zwischenräume und das Licht.“

Birgit: Wunderschön! Und das Licht zu sehen, beziehungsweise sicher zu sein, dass die Sonne wieder aufgeht, auch wenn es gerade noch so düster und ausweglos erscheint, das ist Stärke. Oder noch anders gesagt: In dem Moment, in dem ich auch die Düsternis und Ausweglosigkeit annehme, entsteht ein Stück mehr Gelassenheit, das ist der Beginn von Leichtigkeit und dann kann ich meine Perspektive verändern.

Andrea: Jetzt haben wir einen schönen, argumentativen Kreis gedreht und sind wieder bei der Leichtigkeit angekommen.

Birgit: Ja, es ist sehr rund, sehr stimmig. Es ist vollständig…

Andrea: … und ich danke dir recht herzlich dafür, auch für deine Offenheit, deine Geschichte so freimütig mit mir und den Leser:innen zu teilen.

 

 

 

Andrea Goffart führt eine Reihe verschiedener Interviews zum Thema "Starke Frauen"

https://www.andrea-goffart.de/category/starke-frauen/

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